#WeRemember
Diese nachfolgende Geschichte wurde vom Bad Schwartauer Sozialdemokraten und früherem Ortsvereinsvorsitzenden Hans Nolte verfasst.
Wie kein anderer war er als überzeugter Antifaschist um Aussöhnung und Versöhnung mit jüdischen Menschen nach den Greueltaten der Nationalsozialisten bemüht. Er gehörte zu den maßgeblichen Initiatoren des „Arbeitskreises 27. Januar“, der lange darum kämpfte, dass auch in Bad Schwartau die Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig verlegt werden konnten, um so einen Ort der Erinnerung für die Familie Jaschek zu schaffen. Die Einweihung fand am 9. November 2004 unter großer Anteilnahme statt. Die Stolpersteine mahnen seither am letzten Wohnort der Jascheks in der Auguststraße 22.
Die Familie Jaschek war die einzige jüdische Familie in Bad Schwartau und wurde am 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Von der Familie überlegte nur der damals 12jährige Jürgen. Sein 10jähriger Bruder und seine Eltern wurden in Riga von den Nazis ermordet.
An der Einweihung nahm auch Richard Y. Yashek (Jürgen Jaschek) mit seiner Familie teil. In das Goldene Buch der Stadt schrieb er:“Für eure Freundschaft danke ich von ganzem Herzen“ und fügte in seiner Rede hinzu: „Mein Leben hat aufgrund eurer Wohltat eine neue Würdigung erfahren. Ihr habt mir geholfen, den dunkelsten Stunden in meinem Leben zu begegnen.“
Die Geschichte Jascheks
Von Hans Nolte.
Liebe Gemeinde!
Ich lese Ihnen jetzt den Bericht eines Zeitzeugen vor, der vor nunmehr 60 Jahren mit seiner Familie hier in der Auguststraße 22 wohnte.
„Die Gewalt beginnt – Kristallnacht
Am 10. November 1938 fuhren wir morgens gerade mit unserer gewöhnlichen Straßenbahn zur Schule, als wir die zerbrochenen Schaufensterscheiben des EPA Kaufhauses und anderer Geschäfte unterwegs bemerkten. Zuerst haben wir mit diesen Ereignissen nichts weiter verbunden. Wir sahen SA-Leute mit Braunhemden und Polizei in Uniform, die Menschen von den Läden fernhielten. Ich sah zerbrochene Ausstellungsstücke, mit Messern aufgeschlitzte Kleidungsstücke, Waren und Artikel aller Art kaputt herumliegen.
Wir hörten etwas über einen Juden in Paris, der Ernst vom Rath erschossen haben sollte, einen kleinen Beamten der Deutschen Gesandtschaft in Paris. Es war die Rede von Herschel Grünspan, einem 17-jährigen Einwanderer aus Hannover, dem Jungen, der gegen die zwangsweise Ausweisung seiner Familie aus Deutschland protestierte. Diese war als Teil der antijüdischen Politik der Nazi-Regierung zusammen mit 18.000 polnischen Juden zurück nach Polen ausgewiesen worden.
Man sagte uns, dass an diesem Tag keine Schule wäre, und wir fuhren zurück nach Bad Schwartau. Damals wohnten wir in einer Wohnung, die Herrn Jankowski, einem Elektrohandwerker, gehörte.
An jenem Abend kam unser Vater nicht nach Hause. Das beunruhigte uns ernsthaft, weil er immer unserer Mutter Bescheid gab, wenn er nicht pünktlich kommen würde. Erst nach Tagen erfuhren wir, dass er verhaftet worden war und sich im Gefängnis des Kreises Eutin in der Kreisstadt Eutin mehrere Kilometer von Bad Schwartau entfernt befand. Die jüdischen Männer aus Lübeck waren mit Bussen in eines der Konzentrationslager transportiert worden. Er blieb in Eutin und hoffte, dass sein Ehrendienst in der deutschen Armee während des I. Weltkrieges und sein Eisernes Kreuz schon seine Behandlung beeinflussen und zu rascher Entlassung aus dem Gefängnis führen würden.
Das war aber nicht der Fall. Er blieb mehrere Wochen im Gefängnis. Meine Mutter sorgte sich dauernd, wo und wie wir leben sollten, denn wir hatten keine Einkünfte. Schließlich ging sie als Maschinennäherin in einer Lübecker Sackfabrik arbeiten. Ich erinnere mich, dass wir damals manchmal einen Korb oder Pappkarton mit Lebensmitteln fanden, der von Unbekannten an unserer Tür abgestellt war, die sich in einem schlecht beleuchteten, ziemlich dunklen Flur befand.
Es war beruhigend zu wissen, dass einige Leute sich Gedanken genug machten, um sich selbst zu gefährden, indem sie heimlich so etwas Illegales taten, immer in der Angst, von Nachbarn denunziert zu werden. Bis heute weiß ich nicht, wer diese Leute waren; ich werde aber stets an ihr Mitleid mit unserem Schicksal denken. Noch nach meiner Rückkehr versucht ich herauszubekommen, wer diese Leute waren.”
Soweit der Wortlaut des Berichtes.
Dieser Zeitzeuge war Richard Jürgen Jaschek. Als Kinder nannten wir ihn Jürgen – wir, die Kinder der Auguststraße. In seinem Büchlein „Die Geschichte meines Lebens” schildert Richard Jürgen Jaschek einen Arztbesuch, der die Atmosphäre der damaligen Zeit wiedergibt.
„Weil ich eine chronische Entzündung im Ohr hatte, brauchte ich Medikamente. Die Rezeptgebühr betrug allgemein 50 Pfennige. Den Rest bezahlte der Staat über die Pflichtversicherung. Einmal bat der behandelnde Arzt, dass meine Mutter seine Praxis mit mir nur nach Einbruch der Dunkelheit oder an einem bestimmten Tag aufsuchen möge, weil er nicht wollte, dass man sieht, wie er jüdische Patienten behandelt.”
Weiter lesen wir in dem Buch, dass Vater Eugen Jaschek, dessen Beruf in der Melderegisterkartei mit Kraftfahrer angegeben ist, 1937 nach Brasilien auswanderte, um dort für seine Familie eine Existenzgrundlage zu schaffen. Denn als Kraftfahrer hatte er Berufsverbot und fand auch als Mechaniker keine Arbeit.
Nach weniger als einem Jahr kam der Vater zurück und berichtete, in Brasilien verstand keiner die Notlage der deutschen Juden und man verspottete ihn dort in Brasilien mit der deutschen Nationalhymne.
Und nun zitiere ich Richard Jaschek wieder wörtlich:
„Während mein Vater in Brasilien war, zog meine Mutter mit uns vom Waldschlösschen in das Armenhaus in Bad Schwartau. Ich weiß nicht, welche finanziellen Regelungen getroffen waren oder wie es meine Mutter fertigbrachte, Miete, Lebensmittel und anderen Bedarf zu bezahlen. Jedoch schaffte sie es, uns sauber zu kleiden und für unser Äußeres und unser Wohlbefinden zu sorgen, wie das nur eine Mutter tun kann.”
In dem folgenden Abschnitt aus Richard Jascheks „Geschichte meines Lebens” wird deutlich, der Antisemitismus war nicht nur eine Wahnidee einiger nationalsozialistischer Parteigrößen, nein, die Rassendiskriminierung ging durch alle Bevölkerungsschichten.
Hören wir nun wieder Richard Jürgen Jaschek:
„In jenem Sommer [er meint hier den Sommer 1938] gingen meine deutschen Spielkameraden ins Lager der Hitlerjugend und nach ihrer Rückkehr, zwei oder drei Wochen später, war ihr Verhältnis meinem Bruder und mir gegenüber verändert. Wir wurden gemieden, verspottet, manchmal gejagt und mehr als einmal angegriffen, als „Juden” und anders beschimpft. Weil wir Juden waren, weigerten sie sich, mit uns Umgang zu haben oder uns auf der Straße mitspielen zu lassen.
Die Diskriminierung uns gegenüber wuchs in vielen Kleinigkeiten. Bei Gelegenheit arbeitete ich nachmittags oder am Wochenende als Balljunge beim örtlichen Tennisverein. Das war aufregend und etwas, worauf man sich freute, besonders weil wir dafür ein paar Pfennige pro Stunde bekamen. Eines Tages forderte man uns auf, die Anlage zu verlassen und nicht wiederzukommen, weil wir nicht arisch wären. Im Rückblick scheint es unglaublich, dass man so grausam zu Kindern im Alter von neun und sieben Jahren sein konnte.”
Und weiter Richard Jürgen Jaschek:
„Die Badeanstalt an der Trave war 15 oder 20 Minuten Fußweg von unserer Wohnung entfernt – noch weniger, wenn wir mit dem Fahrrad fuhren. Plötzlich war uns auch das verboten. Ich erinnere mich daran, dass ich eines Nachmittags meinen Eintritt von 10 Pfennig zurückbekam und aufgefordert wurde zu verschwinden, weil der Bademeister nicht wollte, dass Juden im selben Wasser wie Arier schwimmen. Gedemütigt und mit zerstörter Selbstachtung ging ich mit meinem Bruder nach Hause, kaum in der Lage, die Tränen zurückzuhalten.”
Soweit Richard Jürgen Jaschek.
Am 1. Oktober 1940 wurde die jüdische Volksschule in Lübeck aufgelöst. Die jüdischen Kinder mussten nach Hamburg fahren und wurden dort auch untergebracht.
Jürgen und Jochen Jaschek wurden in das Waisenhaus Papendamm in Hamburg umgemeindet. Am 4. Dezember 1941 enden die Eintragungen in der Melderegisterdatei der Stadt Bad Schwartau mit den Worten:
„Die Familie Jaschek ist mit dem Sammeltransport durch die Gestapo unbekannten Zieles abtransportiert worden.”
Die Familie Jaschek wurde zusammen mit der jüdischen Bevölkerung Lübecks in die KZ-Lager rund um Riga deportiert.
Richard Jürgen Jaschek erhielt die KZ-Nummer 95929. Er hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt.
Nach dem Kriege weilte Jürgen, wie ich ihn seit Kindheitstagen immer noch nenne, einige Zeit hier in Bad Schwartau. Über Schweden fand er dann endlich in den USA eine neue Heimat. Im vorigen Jahr war Richard Jürgen Jaschek Gast in unserer Stadt. Und wurde hier in dem Gemeindesaal von den ehemaligen Kindern der Auguststraße herzlich empfangen.
Verhärtungen wurden aufgebrochen, Voreingenommenheiten abgebaut.