Europapolitik

In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 – vom 1. Juli bis zum 31. Dezember – übernimmt Deutschland turnusmäßig in einem „Schicksalsjahr“ für Europa den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Diese Ratspräsidentschaft hatte Deutschland zuletzt 2007 inne.

Foto: BMF

Eines ist sicher: Mit Blick auf die aktuellen „Fliehkräfte“ in Europa, mit Blick auf die fehlende Akzeptanz für unsere europäischen Werte wie Presse- und Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz wie z.B. in Ungarn, Polen oder anderen osteuropäischen Ländern, mit Blick auf die faire und menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen sowie eine gemeinsame Asylpolitik und die Überarbeitung der Dublin-Regeln, eine gemeinsame Sicherung der EU-Außengrenzen zum Schutz der Freizügigkeit und offener Grenzen innerhalb Europas steht 2020 viel auf dem Spiel. Denn erst Ende 2019 wird eine neue EU-Kommission mit einem noch bunteren EU-Parlament wieder politisch handlungsfähig sein und 2020 mit den 27 Nationalstaaten (ohne Großbritannien!) vor einer Zerreißprobe stehen. Warum? Weil – neben den soeben beschriebenen Herausforderungen – vor allem der siebenjährige EU-Finanzrahmen von 2021 bis 2027 zu verhandeln und zu beschließen sein wird. Diese Verhandlungen gelten schon heute als die schwierigsten, die Europa je erlebt hat, weil viele Nationalstaaten vor allem ihre eigenen Interessen sehen, keine Kompromisse eingehen wollen und in erster Linie ein Ziel verfolgen: Geld aus den „Töpfen“ in Brüssel zu „kassieren“. Da gleichzeitig mit Großbritannien ein großer Nettozahler die Eurozone verlässt, während zusätzliche Aufgabe auch zusätzlich finanziert werden müssen, würden –selbst bei gleichbleibenden Ausgaben alle anderen Nettozahler und natürlich vor allem Deutschland – mehr Geld nach Brüssel überweisen müssen. Da geht es dann sehr schnell um große Milliardenbeträge.
Bei dem EU-Finanzrahmen bis 2027 geht es aber nicht nur um sehr, sehr viel Geld aus den Haushalten der Nationalstaaten, sondern vor allem um die Inhalte und Schwerpunkte, für die das EU-Geld bis 2027 ausgegeben werden soll. Da geht es um mögliche Standards für die Landwirtschaft, um Energie- und Meerespolitik, um Bildung-, Forschungs- und Innovationsinvestitionen, um eine gemeinsame Verantwortung für den Klimawandel und Strategien für C02-Minimierung, um eine gerechte Steuerpolitik in der EU und soziale Standards wie z.B. einen europaweiten Mindestlohn oder auch darum, ob Länder, die rechtstaatliche Prinzipien verletzen oder gemeinsame Anstrengungen z.B. bei der Aufnahme von Flüchtlingen boykottieren, EU-Mittel künftig gekürzt bekommen können oder nicht. Bei diesen Verhandlungen in Brüssel stehen also nicht nur die Interessen Deutschlands auf dem Spiel, sondern auch unsere ur-sozialdemokratischen Ziele und Schwerpunkte, wie sie auf unsere Initiative im Koalitionsvertrag der GroKo an erster Stelle von uns durchgesetzt und fest verankert wurden. Es geht um eine Richtungsentscheidung für die nächsten Jahre, die angesichts des politischen Gewichtes, das wir Europa geben wollen, sogar von globaler Bedeutung sein kann.
Mit dem EU-Finanzrahmen wird für mehrere Jahre festgelegt, in welchen Bereichen die EU investieren will und soll, ist also Ausdruck der politischen Schwerpunktsetzung Europas. Den
größten Posten im europäischen Haushalt macht aktuell mit ca. 40% der EU-Mittel die Förderung der Landwirtschaft aus, was nicht so bleiben kann, wenn neue Herausforderungen auch finanziert werden sollen. Die Finanzen der Europäischen Union müssen also grundsätzlich reformiert werden und die Widerstände dagegen sind groß. Die aktuellen Herausforderungen wie z.B. eine gemeinsame Klima- wie auch Digitalisierungs- oder Verteidigungspolitik, grenzüberschreitende Sicherheit gegen Terrorismus und – angesichts des Handelsstreits zwischen China und USA – eine gemeinsame Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zwingen uns aber, genau diesen Weg grundsätzlicher Reformen zu beschreiten.
Im Europäischen Rat vertritt je ein Vertreter pro Mitgliedstaat auf Ministerebene die Interessen des Landes – auf der europapolitischen Bühne ist das im Bereich der Finanzen und für die Abstimmung der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik also unser SPD-Finanzminister Olaf Scholz. Als Finanzministerium wirken wir bei der Aufstellung und Kontrolle des Haushalts der Europäischen Union mit und konkret werden diese Verhandlungen häufig auch von Olaf Scholz an mich übertragen, weil ich eben für „Haushalt und Europa“ zuständig bin. So habe ich schon im November 2018 in Brüssel den EU-Haushalt für 2019 als Delegationsleiterin verhandelt und werde am 15./16. November in Brüssel erneut für den Haushalt 2020 verantwortlich sein. Eine Aufgabe, die spannend und herausfordernd zugleich ist. Aber mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland wird diese „Mammut-Aufgabe“ natürlich noch einmal sehr viel größer. Dann geht es für die Zukunftsfähigkeit Europas um alles.
Deutschland muss mit unserem Verhandlungsführer Scholz in den strittigen Themen klar als Brückenbauer auftreten. Das Entscheidende ist nicht, wie hoch die Landwirtschaft weiter gefördert wird, sondern wofür konkret die Mittel in diesem Bereich ausgegeben werden. Als einer der größten landwirtschaftlichen Produzenten der Welt könnte Europa eine neue richtungsweisende Zukunft einschlagen: Eine Neuausrichtung auf eine ökologische und nachhaltige Landwirtschaft, die auch den Umgang mit den Böden als große Kohlenstoffsenken des Planeten im Blick hat, denn je nachdem, wie der Mensch Böden nutzt, befeuert oder bremst er den Klimawandel. So können wir bereits in den Verhandlungen den Grundstein für wichtige Initiativen für den Klimaschutz und ein sozialeres Europa legen.
Es ist wichtig, dass wir unsere deutsche EU-Ratspräsidentschaft weder klein reden noch in ihrer Wirkung verkennen. Es geht um ur-sozialdemokratische Inhalte mit Langzeitwirkung für den Zusammenhalt in Europa. Es liegt nun an uns, die nächsten sieben Jahre europäischer Politik maßgeblich mitzugestalten. Und das in einer Zeit, in der Europa so wichtig war wie nie.
In Deutschland, in ganz Europa ist die extreme Rechte auf dem Vormarsch. Die internationale Lage, und zwar ökologisch, ökonomisch, finanzpolitisch, sozial- und sicherheitspolitisch, könnte nicht brisanter sein. Deshalb halte ich es für fahrlässig, eine Debatte darüber zu führen, ob die SPD aus der Regierung vorzeitig aussteigen soll. Warum? Weil wir mit Olaf Scholz und Angela Merkel zwei europäische „Schwergewichte“ an der Spitze unseres Verhandlungsteams
haben, deren „Stimme“ bei den anderen Mitgliedsstaaten auch Gehör findet. Diese einmalige Chance müssen wir ergreifen und dürfen sie nicht verspielen.

Bettina Hagedorn